Er ist der Mann für halbe Sachen: Aus den Teilen alter Skateboards baut der Designer Florian Bürkle Unikatmöbel mit Kunst- und Nachhaltigkeitsanspruch. Ein dreibeiniger Hocker aus zwei Abschnitten eines abgelegten Boards ist das Herzstück seiner Upcycling-Kollektion „Mister Wilson“.

Foto: Patricia Neligan

S ie erleben zusammen eine Menge Hochs und Tiefs – Skater und ihre Boards. Eins der Tiefs ist „Mister Wilson“. So nennen Insider den Moment, in dem das Board unkontrolliert nach vorne wegschießt und den Skater unsanft von den Füßen reißt. Und dann gibt es da noch den Skatertrick mit dem Namen Kickflip. Der ist für den Skater eher unbedenklich, für das Board nicht immer. Wenn’s dumm läuft, brechen die sieben Lagen kanadischer Bergahorn dabei schon mal mitten durch.

Das war’s dann. Es sei denn, Florian Bürkle bekommt Wind davon. Der Stuttgarter mit der Werkstatt im Gründerzentrum IW8 für Kreative, ist Produktdesigner und Skateboarder aus Leidenschaft. Der 40-Jährige mit der Cargohose und dem Karohemd lebt in der Skater-
Kultur. Das Schöne am Skaten ist für ihn die große Freiheit: „Es gibt keinen Trainer, keine Mannschaft, keinen Gegner. Man fährt einfach, wie und wo man will.“ Seit ein paar Jahren verknüpft er Freiheit und Leidenschaft auf ungewöhnliche Weise mit seinem Beruf als Designer.

Dabei hat er mit Design erst mal gar nicht viel am Hut. Allenfalls, dass er nach dem Abi bei Vitra Bürostühle montiert, weil er in der Gegend wohnt. Dann absolviert er eine handwerkliche Ausbildung und beginnt anschließend ein Studium der Gestaltung an der Hochschule in Schwäbisch Gmünd. Als Absolvent arbeitet er bei den renommierten Möbeldesignern Jehs + Laub, die für COR, Knoll, Fritz Hansen und Thonet aktiv sind. Bei Milla & Partner engagiert er sich unter anderem für den deutschen Pavillon auf der Expo in Shanghai.

„Jeder Produktdesigner muss sich auch mit dem Recycling seines Produkts auseinandersetzen.“

Foto: Patricia Neligan

In Shanghai hat er eine Art Schlüsselerlebnis. Mit dem Board, auf dem er zwei Wochen lang durch Shanghai cruist, hat er schon eine Menge erlebt. Vieles verbindet die beiden. Dann, mitten in der Stadt, zerbricht es plötzlich. „Ich war todtraurig, aber ich habe es natürlich wieder mit nach Hause genommen“, erzählt Bürkle. Dort entsteht die Idee, aus abgelegten und kaputten Boards etwas Neues, Wertvolles zu schaffen – Upcycling heißt das. Schließlich wächst der kanadische Bergahorn 50 Jahre lang, bis man aus seinem Holz ein Skateboard machen kann. Wenn das dann innerhalb von drei Monaten bricht, bei Profis auch innerhalb von ein bis zwei Wochen, kommt es meist in die Mülltonne.

„Jeder Produktdesigner muss sich auch mit dem Recycling seines Produkts auseinandersetzen“, ist Bürkles Credo. Upcyc­ling ist für ihn eine besonders faszinierende Variante davon. Auch was Skateboards betrifft, ist der Gedanke an sich nicht neu, auch andere haben schon Regale und Accessoires aus alten Boards gebaut. Überzeugendes Design ist für Bürkle aber nicht dabei. Also geht er selbst ans Werk. Er zeichnet den Umriss eines Skateboards auf ein Blatt ­Papier, vervielfältigt es, schneidet es auf immer wieder unterschiedliche Art und Weise durch. Irgendwann findet er zwei perfekte Formen aus Nose und Tail, also Anfang und Ende des Boards. Perfekt, weil sie zusammengesetzt eine neue Form ergeben, die den idealen Sitz eines Hockers bilden – noch dazu eine Herzform. „Für mich symbolisiert das die Beziehung des Skaters zu seinem Brett“, philosophiert Bürkle.

Im Keller zeichnet, sägt, schleift und schraubt er. Aus dem Board, das in Shanghai zerbrochen ist, entsteht schließlich sein allererster Hocker. Einer mit Geschichte – wie alle anderen Unikate, die er seitdem gebaut hat. Denn aus den Kratzern und Kerben auf der Oberfläche und der Deckunterseite kann Bürkle lesen, welche Tricks der Profi gefahren ist und welche davon misslungen sind. Ohnehin ist jedes Brett anders in Breite, Form und Krümmung des Decks. Die ersten 15 Hocker namens „Slide“ verkauft er für 130 Euro das Stück auf der Designmesse Blickfang. Kunden möchten sie für sich selbst oder als Geschenk, Firmen verwenden sie als Arbeitsstühle oder schmücken damit ihren Messestand. Für seine Idee erhält Bürkle die Auszeichnung der Bundesregierung als „Kreativ- und Kulturpilot Deutschland“. Seine Idee ist erfolgreich. So erfolgreich, dass andere sie kopieren.

Foto: Patricia Neligan

Material gibt es potenziell genug, Skateboards werden oft ausgetauscht. Trotzdem ist es für Bürkle nicht leicht, an neue alte Boards zu kommen. Nachdem er zuerst seine eigenen, in vielen Jahren abgefahrenen und im Keller gestapelten Bretter verarbeitet hatte, fragte er seine Freunde. Inzwischen hat er in Stuttgarter Skateboard-Shops Recycling-Kisten aufgestellt, in die manche Skater gebrauchte Decks werfen, zerbrochene und intakte. Ein Tauschgeschäft: Für zehn alte Boards gibt es einen Hocker „Slide“ von Mister Wilson.

Einen Hocker zu fertigen, ist kein Spaziergang. Zuerst muss Bürkle das Griptape mühsam mit Heißluft, Messer und Muskelkraft vom Deck ablösen. „Da drunter kommen dann Farben und Maserungen zum Vorschein, die manchmal echte Schätze sind“, schwärmt er. Dann macht er sich daran, den hartnäckigen Kleber abzureiben. Anschließend geht es ans Schneiden, schließlich soll die perfekte und letztlich bequeme Herzform entstehen. „Oft vertragen sich aber vorderes und hinteres Ende nicht, dann verwende ich zwei verschiedene Boards“, erklärt der Designer. Er bricht die Kanten der Decks und fügt die Hälften des Sitzes mit einer Lamellenverbindung und Spezialleim bündig zusammen.

Foto: Patricia Neligan

Die Beine lässt er aus einer 15-Millimeter-Birke-Multiplexplatte von einem befreundeten Schreiner am CNC-Bearbeitungszentrum ausfräsen. In seiner Werkstatt schraubt er sie dann an eine zentrale Aufnahme und fixiert die Sitzschale darauf mit drei Schrauben. Dazu nutzt er die sowieso vorhandenen Bohrungen, an denen mal die Achsen befestigt waren. Vorher legt er Moosgummi unter den Sitz, das die unterschiedlichen Formen und Krümmungen der Decks ausgleicht. „Der Rest ist Betriebsgeheimnis“, schmunzelt Bürkle.

Mit einer Punze prägt er zuletzt jedem Hocker an der Sitzunterseite eine laufende Nummer ein. Dazu gibt es ein individuelles Etikett, einen „Personalausweis“, auf dem neben dem Namen des einstigen Besitzers unter anderem zu lesen ist, wo („Place of Dilemma“) und bei welchem Trick das Brett gebrochen ist.

Foto: Patricia Neligan

„Slide“ ist nicht allein. Inzwischen fertigt Bürkle alias Mister Wilson nicht nur Hocker in zwei Sitzhöhen – für Ess- oder Schreibtisch respektive für Tresen oder Werkbank – und in zwei Sitzformen, sondern zum Beispiel auch einen Tisch namens „Plaza“. Er entsteht aus dem, was bei der Fertigung von drei Hockern übrigbleibt, den Mitteldecks. „Dadurch wird ein Deck zu rund 95 Prozent verwertet“, betont Bürkle. Außerdem gibt es eine Bank, die er aus einem kompletten, intakten Deck baut. Auch Specials wie bedruckte Hocker mit symmetrischen Jugendstilornamenten aus Stuttgarter Stadtteilen oder ein Set aus drei monochrom lackierten „Slides“ hat er im Sortiment. Hinzu kommen Objekte, die vom Skateboarding inspiriert sind und inzwischen von anderen Herstellern produziert werden. Etwa das modulare Regalsystem „Hanibal“ oder der „Deckchair“, ein gepolsterter Sessel mit Ottomane auf einem Drehgestell.

„Slide“ aber ist als Herzstück der Mister-Wilson-Kollektion etwas ganz Besonderes. In mehrfacher Hinsicht. Denn mit jedem verkauften Hocker geht eine Spende an die Hilfsorganisation skate-aid, einen gemeinnützigen Verein, der weltweit Kinder- und Jugendprojekte fördert, die mit Hilfe des sinn- und identitätsstiftenden Skateboards den Jugendlichen Spaß auf vier Rollen ermöglicht. Darauf ist Bürkle besonders stolz. Doch etwas anderes ist ihm ebenso wichtig: „Der Ahorn und das Board können als Hocker noch 50 Jahre weiterleben.“

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